Ungleichheit – worum geht‘s hier?

Ungleichheit kann vieles, fast alles eigentlich, bezeichnen. Wer oder was ist schon gleich? Soziale Ungleichheit klingt etwas genauer, aber auch hier tun sich schnell viele Dimensionen auf: Bezeichnet dies nur ‚materielle‘ oder auch ‚immaterielle‘ Ungleichheit, wie beispielsweise die Ungleichheit von Status, Bildung, Gesundheit, kulturellem Hintergrund oder politischer Macht? Die Zahl der Facetten sozialer Ungleichheit ist fast beliebig erweiterbar, das wird nicht zuletzt wissen, wer sich schon mit der Soziologie der Sozialen Ungleichheit beschäftigt hat.

Wie im Infotext Über dieses Blog dargelegt, soll es hier in erster Linie um die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen gehen. Natürlich lässt sich diese eher materielle Dimension der Ungleichheit nicht von den anderen Dimensionen trennen. Im Gegenteil, wechselseitige Beziehungen zwischen den verschiedenen Ungleichheitsdimensionen sind ein zentraler Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung.

Im Buch The Spirit Level wird beispielsweise der statistische Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und verschiedenen Indikatoren gesellschaftlicher Wohlfahrt ausführlich untersucht und aufgezeigt, dass materielle Ungleichheit im Ländervergleich häufig einhergeht mit gesellschaftlichen Problemen wie psychischen Erkrankungen, Drogenkonsum, Gefangenenzahlen oder Gewalt.

Doch gerade die Untersuchung von Einkommens- und Vermögensungleichheit an sich, also zunächst einmal die empirische Beschreibung ihrer Entwicklung im Zeitverlauf und ein formaler Rahmen zur Analyse dieser Dynamiken, ist bisher – im Vergleich zu der Fülle an Untersuchungen drumherum – zu kurz gekommen.

Die Disziplin der Volkswirtschaftslehre, in der diese Frage naturgemäß angesiedelt sein könnte, hat Ungleichheit lange sträflich vernachlässigt. Häufig liegen ihren Modellen sogenannte representative agents zugrunde – alle Individuen sind mit demselben Einkommen, Vermögen und identischen Einkommensquellen ausgestattet. Ungleichheit wird in solchen Modellen also gleich per Annahme ausgeschlossen. Und selbst die Modelle, in denen Ungleichheit vorkommt, gehen häufig mit fragwürdig vereinfachenden Annahmen vor, wie beispielsweise dass Lohn und Arbeitsproduktivität gleichzusetzen wären. Dabei interessierten sich einige der frühen Vertreter der Disziplin – wie David Ricardo oder Karl Marx – ganz zentral für die Frage der Verteilung der Produktion.

Doch nicht alle modernen Ökonomen haben das Thema ausgeblendet. Und spätestens in diesem Jahr hat Thomas Piketty die Verteilungsfrage der VWL in seinem im März auf Englisch erschienenen Buch ‚Capital in the 21st Century‘ fulminant aufgeworfen. Auf rund 700 Seiten bringt er empirisches Material aus 20 Jahren kollaborativer Forschung zusammen. Ein umfangreiches Datenwerk, das in der World Top Incomes Database zusammengetragen wird, kommt hier zur Geltung. Dazu analysiert Piketty wichtige Ungleichheitstriebkräfte („forces of divergence“), indem er den Zusammenhang zwischen Vermögensverteilung, Einkommen, Wachstum und Kapitalrendite formalisiert. Und auch die Rolle von Besteuerung insbesondere im Bereich der Spitzeneinkommen thematisiert Piketty.

Eine Illustration: Abbildung 1 zeigt einen von Pikettys zentralen Befunden für die USA – eine sogenannte U-förmige Kurve bei den Einkommensanteilen der Spitzenverdiener. Nach einem steilen Rückgang nach dem zweiten Weltkrieg und im Zuge des New Deal stiegen die Anteile der Spitzeneinkommen an den Gesamteinkommen seit den 1980er-Jahren rasant an.

Abbildung 1

Abbildung 1: Prozentanteil der obersten Einkommensperzentilen am gesamten Einkommen (ohne Kapitaleinkommen) in den USA zwischen 1917 und 2012. Quelle: Alvaredo, Atkinson, Piketty und Saez, The World Top Incomes Database, 24/06/2014.

Wenn Piketty noch eines deutlich gemacht hat, dann dass die Entwicklungstendenzen, die er zu formalisieren sucht, keineswegs Automatismen sind – obwohl ihm diese Behauptung gerne unterstellt wird. Im Gegenteil. Er macht deutlich, dass Ökonomie eben nicht im luftleeren Raum stattfindet. Die Richtung, in die sich Ungleichheit entwickelt wird maßgeblich vom politischen Rahmen bestimmt, und zwar egal wie dieser politische Rahmen aussieht. Ein Staat, der sich „raushält“ aus der Wirtschaft, ermöglicht eine andere Entwicklung der Ungleichheitsverhältnisse, als ein Staat, der etwa Einkünfte aus Arbeit und Kapital progressiv besteuert und Sozialstandards setzt.

Und die Politik? Je nach politischem System mag sie theoretisch aus dem ‚Himmel‘ eines Zentralkomitees oder demokratisch, bottom-up, nach dem Willen des Volkes zustande kommen. In der Praxis wird sie jedoch auch in demokratisch verfassten Gesellschaften stark von denen bestimmt, die finanzielle Möglichkeiten zur Einflussnahme auf politische Entscheidungen und die öffentliche Willensbildung haben. Deswegen kann eine Betrachtung der Verteilung von Einkommen und Vermögen und deren Entwicklung speziell die Dimension politischer Macht und Einflusschancen nicht außer Acht lassen.

Auf diese Fragen legt Verteilungsfrage.org also seinen Fokus: die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und den Zusammenhang zwischen ökonomischer und politischer Ungleichheit. Es ist dabei neugierig in alle Richtungen. So geht es neben der Beschreibung der Entwicklungen im Zeitverlauf und Erklärungsversuchen um Fragen nach den Folgen, aber auch um Ansichten über und Rechtfertigungen der Ungleichheit. Und es werden immer wieder, neben den Kernthemen materielle Ungleichheit und politischer Einfluss, auch andere Dimensionen der sozialen Ungleichheit in die Betrachtung einbezogen.

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