Dürrer Boden für Verteilungsfragen

„Den Deutschen geht es richtig gut“ – so lautet der Titel eines Beitrags im FAZ-Wirtschaftsteil von vergangenem Samstag. Aufgehängt ist die Geschichte an einer Studie des wirtschaftsfinanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln, in der Umfragedaten aus den Jahren 1980 bis 2012 des Sozioökonomischen Panels ausgewertet werden. Rund die Hälfte der Befragten gaben demnach zuletzt an, mit ihrem Leben „in hohem Maße zufrieden“ zu sein. Hauptgrund sei die niedrige Arbeitslosigkeit.

Die FAZ nimmt dies zum Anlass, auf die schwelende Ungleichheitsdebatte einzugehen. Rhetorisch fragt sie:

Aber ist es nicht so, dass Deutschland kurz vor der Spaltung steht? Mahnt nicht die Industrieländer-Organisation OECD vor einer sozialen Kluft in Deutschland? Die Armen werden immer ärmer, die Reichen immer reicher – so suggerierte die Debatte über den Wohlstand der Deutschen in den vergangenen Monaten. Und der Ökonom Thomas Piketty rechnete vor, dass das in Zukunft noch immer so weitergehen würde.

FAZ 28.6.2014, S. 19.

Um dann festzustellen: „Doch das Thema traf nicht recht den Nerv der Deutschen“. Weder im Bundestagswahlkampf 2013, noch im Frühjahr 2014, als die Diskussion um das – im März auf Englisch erschienene – Buch von Thomas Piketty, Capital in the 21st Century, auch nach Deutschland herüberschwappte:

Auch heute zündet die Debatte nicht besser. Thomas Piketty prophezeit, dass die westliche Welt auf Dauer von den Erben reicher Leute beherrscht werden könnte – doch die These hat in Deutschland nur unter einigen Kommentatoren verfangen. Während sein Buch in den krisengeplagten Vereinigten Staaten innerhalb weniger Wochen ausverkauft war, obwohl es sich um ein ökonomisches Fachbuch handelte, fiel die Debatte in Deutschland nur auf dürren Boden und starb bald ab. Nach einer Woche wandten sich die Talkshows anderen Themen zu.

FAZ 28.6.2014, S. 19.

Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Wie schon an anderer Stelle herausgearbeitet, macht Piketty in seinem Buch gar keine Prophezeiungen. Diese vermeintliche These kann also bei sorgfältigen Lesern von Piketty gar nicht verfangen.

Aber warum ist die Piketty-Debatte in Deutschland mittlerweile wieder etwas abgeebbt? Die FAZ suggeriert sich hier als unbeteiligter Beobachter, der feststellt, Ungleichheit interessiere in Deutschland eben niemanden, es gehe allen so prächtig, dass der Boden dürr sei für dieses Thema. Dabei ist gerade der FAZ-Wirtschaftsteil ein zentraler Akteur in dieser Debatte. Ist der „dürre Boden“ also vielleicht eher der einseitigen wirtschaftspolitischen Debatte in Deutschland zuzuschreiben als dem vermeintlich sprudelnden Wohlstand?

Den Deutschen geht es richtig gut

FAZ vom 30.6.2014, S. 19

Und was haben eigentlich die beiden Fragen – subjektives Wohlbefinden und die Ungleichheitsdebatte – miteinander zu tun? Die Antworten in Umfragen nach dem subjektiven Wohlbefinden sind stark korreliert mit der Arbeitslosigkeit: In den jeweiligen konjunkturellen Hochphasen, also Zeiten mit niedriger Arbeitslosigkeit, sind die Zufriedenheitswerte am höchsten und umgekehrt. Darauf wird in dem Print-Artikel jedoch nicht hingewiesen (nur in der Online-Version wird auf einen Artikel und auf eine Grafik verlinkt, aus denen dies hervorgeht).

Arbeitslosenquote in Deutschland (bis 1990: Westdeutschland). Senkrechte Linien markieren die im FAZ-Artikel genannten Höhepunkte der gemessenen Zufriedenheit - sie liegen genau in den Talsolen der Arbeitslosigkeits-Entwicklung. Quelle: EU-Kommission

Arbeitslosenquote in Deutschland (bis 1990: Westdeutschland). Senkrechte Linien markieren die im FAZ-Artikel genannten Höhepunkte der gemessenen Zufriedenheit – sie liegen genau in den Talsolen der Arbeitslosigkeits-Entwicklung. Quelle: EU-Kommission

Und sicher: Ungleichheit, insbesondere der Einkommen, variiert auch mit der konjunkturellen Lage. Die interessantere Frage jedoch ist, wie sich Ungleichheit strukturell, also bereinigt um konjunkturelle Schwankungen, entwickelt. Genau diese Frage wirft Thomas Piketty auf. Piketty interessiert sich für langfristige Entwicklungen, nicht für konjunkturelle Schwankungen.

Ein ganz anderer Zusammenhang zwischen subjektiver Zufriedenheit und Ungleichheit scheint aber zu bestehen: Ein junger Forschungszweig untersucht den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und makroökonomischer Instabilität. Und erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit zur Entstehung von Krisen beiträgt. Deren Kosten einer höheren Arbeitslosigkeit haben dann auch Auswirkungen auf die subjektive Zufriedenheit.

Interessant wäre es daher, wenn die FAZ fragen würde: Wie ist die Zufriedenheit denn in den europäischen Staaten, in denen die Arbeitslosigkeit bei über 20 % liegt, und was hat letztere eigentlich mit dem deutschen Exportboom und der hiesigen niedrigen Arbeitslosigkeit zu tun? Vor allem: welche Rolle spielt die deutsche Lohnzurückhaltung der letzten Jahre dabei und wie hängt die mit Ungleichheit zusammen? Aber für solche Fragen scheint der Boden in Deutschland (noch) zu dürr.

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