Sie wollen es nicht wahrhaben

Ein aktuelles FAZ-Interview mit dem britischen Ungleichheitsforscher Tony Atkinson ist gleich doppelt erhellend. Die Antworten sind interessant. Aber fast noch interessanter sind die Fragen. Sie fassen ziemlich prägnant zusammen, wie die FAZ das Thema Ungleichheit in letzter Zeit anpackt. *

Klar – die besten Interviewer stellen provokative Fragen. Aber viele Fragen transportieren auch eine Position und sie strukturieren die Debatte über das Thema. Deswegen ist eine kritische Betrachtung provokativer Interview-Fragen ein durchaus erhellendes Unterfangen.

“Den Deutschen” geht es doch gut

Herr Atkinson, den Menschen in Deutschland geht es gut. Warum sollten sie sich Gedanken über Ungleichheit machen?
FAZ, 6.4.2015

Da haben wir bereits in der ersten Frage eine wohlbekannte Suggestion: Die Ungleichheitsdebatte in Deutschland sei ja geradezu hysterisch. In Wirklichkeit überschätzten die Deutschen (einer wirtschaftsfinanzierten Denkfabrik zufolge) die Ungleichheit.

Und auch das ständige Lamento über die zunehmende Armut sei doch eigentlich in Deutschland fehl am Platz. Wo sich nun sogar Andrea Nahles vor den Karren derjenigen spannen lässt, die den Armutsbegriff zurück ins 19. Jahrhundert katapultieren wollen.

Politik von Vorgestern vs. moderne Politik

“Das [Klimawandel, Schuldenabbau, Pensionslasten, Geschlechterungleichheiten] sind teilweise sehr moderne Probleme. Meinen Sie wirklich, die kann man mit den Mitteln von vorgestern lösen – hohe Steuern, mehr Sozialleistungen?”
FAZ, 6.4.2015

Sicher bekämpft man nicht den Klimawandel direkt mit einer stärkeren Progression in der Einkommensbesteuerung, mit einer Vermögenssteuer oder mit besseren Sozialleistungen. Aber so meint Atkinson das ja auch überhaupt nicht. Insofern wäre eine Frage nach dem Zusammenhang zwischen Ungleichheit und den genannten Herausforderungen tatsächlich interessant. Beispielsweise ist es für die Umsetzung von Politikmaßnahmen, die darauf zielen, die wahren ökologischen Kosten vieler Produktionsprozesse einzubeziehen, von zentraler Bedeutung, ob solche Maßnahmen zu sozialen Härten führen.

Die in der Frage implizierte Unterscheidung von Problemen und Politikmaßnahmen in “modern” und “vorgestrig” transportiert jedoch eine völlig andere Botschaft. Umverteilung sei gestern, nein vorgestern gewesen – moderne Politik aber sei etwas anderes. “Governance” oder sowas…

It’s Globalisierung, stupid!

Wenn Leute mit Geld von solchen Plänen Wind bekommen – dann verschwinden die doch sofort in ein Land, wo sie nicht um ihr Vermögen fürchten müssen.
FAZ, 6.4.2015

Da ist sie, die Globalisierungskeule. Atkinson weist sie zwar zurück – denn der Einwand ist angesichts eines wachsenden politischen Willens, international gegen Steuerflucht und -vermeidung vorzugehen, viel eher “von vorgestern”. Aber man kann ja nochmal nachhaken:

Für wirklich globale Steuern müssten irrwitzige Mengen von Finanzdaten ausgetauscht werden. Machen Sie sich keine Sorgen, wer die alles zu sehen kriegt?
FAZ, 6.4.2015

Irrwitzig. Wirklich schlimm. Dann könnte es sogar dazu kommen, dass auch die Vermögenden, die sich bisher einer Beteiligung an öffentlichen Gütern entziehen, gezwungen sind mitzumachen. Man stelle sich zusätzlich vor, sie könnten am Ende sogar nur noch gleichberechtigt in der Demokratie ihre Stimme einbringen… Halblang: Zu ihrem Glück sind wir ja in der Lobby-Regulierung noch nicht so weit.

Es ist schon interessant, an welchen Stellen in bestimmten Kreisen der Liberalismus und die Sorge um den Datenschutz bemüht wird, und um welche und wessen Freiheit die Sorge dann am größten ist.

Umverteilung bremst wirtschaftliche Dynamik

Ihr gesellschaftliches Vorbild ist die Nachkriegszeit. Wenn sich herausstellt, dass sich die heutige Ungleichheit nicht ohne große Wohlstandsverluste verringern lässt – und Sie zwischen damals und heute wählen müssten: Wo würden Sie leben?
FAZ, 6.4.2015

Es ist zwar offen formuliert. Aber das ganze Framing der Frage macht klar, woher der Wind weht. Denn ein Standard-Argument gegen die Umverteilung ist – wenn das Globalisierungsargument schon verbraucht ist und der Verweis auf das vermeintlich brachliegende Frankreich gerade nicht passt (Atkinson ist Brite, nicht Franzose, wie Piketty) – der Hinweis auf mögliche große Wohlstandssverluste, mit denen vermeintlich zu rechnen wäre, wenn die wirtschaftliche Dynamik durch Umverteilung vermeintlich geschwächt würde.

Wie gesagt: Gute Interviews basieren auf provokativen Fragen. Insofern könnte man sagen: es ist ein hervorragendes Interview, weil lauter sonderbare Positionen vorgebracht werden, denen entgegnet werden kann. Wenn man aber bedenkt, dass diese Fragen in einem publizistischen Kontext stehen, wo in ihnen enthaltene Thesen ständig reproduziert werden, sei es in redaktionellen Kommentaren, zuspitzenden Artikelüberschriften oder ‘ausgewählten’ Studien, dann zeigt dies aus meiner Sicht eher, wie bitter es weiterhin um die Ungleichheitsdebatte in Teilen der deutschen Medienöffentlichkeit bestellt ist.


*Das Interview erschien zunächst in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 29.3.2015, seit 6.4. ist es auch online verfügbar

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