Wer hat hier „verzerrte Umverteilungspräferenzen“?

FAZ und IW Köln haben wieder zugeschlagen. Auf der Basis einer auf wackligen Füßen aufgebauten Studie legen sie nahe, in Deutschland gebe es kein Ungleichheitsproblem und keine Notwendigkeit einer Umverteilungspolitik. Der Beitrag zeigt auf, warum eine solche These gewagt ist.


Aktueller Hinweis (10.12.2014): Die in diesem Blogbeitrag diskutierte Studie hat noch einmal Aufsehen erregt, weil der Sachverständigenrat (die sogenannten ‘Wirtschaftsweisen’) die Studie aufgegriffen hat. In einer tollen Satire nehmen Max Uthoff und Claus von Wagner das Jahresgutachten und seine verzerrte Wahrnehmug vermeintlich verzerrter Ungleichheitswahrnehmungen aufs Korn:
 
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Nachtrag (12.12.2014): Das IW Köln promoted seine fragwürdige Studie trotzdem munter weiter:


Verteilungsfragen haben Konjunktur: Die Occupy-Bewegung thematisierte die oberen 1% der Einkommensbezieher; in Deutschland formierte sich ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis mit dem Motto „Umfairteilen“; im Bundestagswahlkampf 2013 legten SPD, Grüne und Linke einen starken Fokus auf Ungleichheit und Gerechtigkeitsfragen; dann im Frühjahr 2014 schwappte aus dem englischsprachigen Raum die „Piketty-Debatte“ herüber. Entsprechend bemüht sich das wirtschaftsliberale Lager darum, die Debatte im Zaum zu halten (vgl. hier und hier).

Gestern legte das wirtschaftsfinanzierte IW Köln nach, natürlich gefeatured vom Wirtschaftsteil der FAZ. Groß titelte die Zeitung in ihrem Wirtschaftsmantel: „Die Deutschen fühlen sich gerne schlecht“ und berichtete über eine ihr zunächst exklusiv vorliegende Studie des Kölner Wirtschaftsforschungsinstituts. Demnach würde die Einkommensungleichheit in Deutschland stark überschätzt, während sich die Dänen und Schweizer relativ realistisch einschätzten und einzig (innerhalb der untersuchten Länder) die Menschen in den USA die Ungleichheit unterschätzten. Der Tenor der FAZ: Die Debatte in Deutschland sei von falschen Wahrnehmungen geprägt und Umverteilung daher nicht angebracht.

Die Erkenntnisse deuten auch darauf hin, dass der Kurs der Sozial- und Umverteilungspolitik in der Praxis weniger von realen Ungleichheiten beeinflusst wird als vielmehr von gefühlten.
FAZ, 21.7.2014, S. 17

Die Studienautorin Judith Niehues erkennt gar einen „Teufelskreis“, weil auf Grundlage einer verzerrten Wahrnehmung eine verzerrte Umverteilungsdebatte geführt werde, die wiederum die verzerrte Wahrnehmung bestärke.

Verzerrte Ungleichheitswahrnehmungen

Die Beobachtung von Niehues ist in der Tat interessant. Sie kontrastiert Umfrageergebnisse der sogenannten ISSP-Studie zu wahrgenommenen Anteilen unterschiedlicher Einkommensschichten mit tatsächlich gemessenen. Vorgelegt wurden den Befragten dabei verschiedene schematische Darstellungen einer Aufteilung von sieben Schichten mit einer jeweiligen kurzen Zusammenfassung der Verteilung (siehe Abbildung unten). Demnach schätzen mehr als die Hälfte der Befragten in Deutschland die Anteile einkommensschwacher Schichten als zu hoch ein (Typ A und B).

Quelle: ISSP / Gesis  (pdf)

Quelle: ISSP / Gesis (pdf)

Eine Übersicht zeigt die so gemessenen Einschätzungen der Ungleichheit im internationalen Vergleich:

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Im nächsten Schritt werden diese Einschätzungen in der Studie zu einer Gesamteinschätzung pro Land aggregiert und mit tatsächlich gemessenen Einkommensdaten abgeglichen. Im Ergebnis erscheinen die unterschiedlich „verzerrten“ Wahrnehmungen, also das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und tatsächlicher Ungleichheit. Es ist in der Tat interessant dass in Deutschland dieses Verhältnis relativ zu anderen Ländern so „pessimistisch“ ist.

Doch die empirischen Befunde sollten mit Vorsicht genossen werden: Die „tatsächlichen“ Einkommensdaten beziehen sich auf Umfragedaten, die die Ungleichheit im Vergleich zu auf der Steuerstatistik basierten Daten unterschätzen, weil Spitzeneinkommen mangels Beteiligung der Top-Verdiener nicht repräsentiert sind.

Zudem werden die Nachsteuereinkommen von Haushalten betrachtet, bei denen die Ungleichheit natürlich geringer ist als bei den Einkommen vor Steuern. Welche Größe später relevant ist, wenn man über die Notwendigkeit von Umverteilung diskutiert, hängt aber etwa davon ab, ob man über bisherige Umverteilung reden möchte oder über noch zusätzliche. Ginge es um erstere wären die Vorsteuereinkommen interessant, ginge es um letztere, dann wären tatsächlich eher die Nachsteuereinkommen die wichtige Größe. Wer weiß schon, an welche Einkommensart die Studienteilnehmer in dem Moment der Befragung dachten – wenn sie überhaupt an Einkommen dachten.

Denn die Frage der ISSP-Umfrage unterscheidet beispielsweise nicht zwischen Vermögens- und Einkommensungleichheit, sondern fragt sehr allgemein nach der „Gesellschaftssform“. Vermögen sind in Deutschland besonders ungleich (.pdf) verteilt. Wenn in der Frage von „Gesellschaftsform“ und „Elite“ die Rede ist, sind Vermögen eine ebenso interessante Größe, weil sie eine dauerhaftere Komponente von ökonomischen Chancen beschreiben mögen.

Auch könnte ein/e Studienteilnehmer/in bei Begriffen wie „Gesellschaftsform“ und „Elite“ vielmehr in politischen Dimensionen denken. Angesichts der regelmäßig bekannt werdenden Lobbyverflechtungen bei zahlreichen wichtigen politischen Entscheidungen, erscheint je nach politischer Orientierung die Wahrnehmung einer „extremeren“ Schichtenverteilung nicht völlig aus der Luft gegriffen.

Des Weiteren gibt die Autorin zu, dass die Einteilung der sieben Schichten ein willkürliches Unterfangen sei, auch wenn sie darauf beharrt, dass bei ihr die Verteilung „allenfalls nach unten verzerrt“ sei. Aber was sie damit bestätigt: Wer kann schon genau sagen, was Studienteilnehmer assoziieren wenn sie die verschiedenen Bildchen betrachten. Wo ziehen sie die Grenzen zwischen den sieben Schichten? Theoretisch könnte man jegliche wahrgenommene Schichtung genau empirisch wiederfinden, wenn man die sieben Schichten entsprechend definiert.

Ferner ist problematisch, dass die Studienautorin die Antworten zu einer kollektiven Präferenz für alle Deutschen aggregiert, um dies mit der von ihr definierten tatsächlichen Schichtenverteilung abzugleichen. Die folgende Abbildung zeigt die Antworten der Studie noch einmal nur für Deutschland:

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Interessanter wäre es doch vielleicht, zu untersuchen, zu welchen gesellschaftlichen Millieus welche Antwortgeber gehören. Beispielsweise könnte gestiegene soziale Abstiegsangst – unter erwiesenermaßen gestiegener Ungleichheit – Antworten in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen prägen. Damit würde die Antwort nicht unbedingt besser die (Einkommens-)Realität beschreiben, aber sie würde dennoch ein Urteil über eine „Fehlwahrnehmung“ stark relativieren, zumal ja nicht einmal konkret nach der Einkommensschichtung gefragt wurde. Eine solche Differenzierung geht im Ländervergleich von Aggregaten völlig unter.

Schließlich sollte stutzig machen, dass es zahlreiche empirische Befunde gibt, die in eine gegenteilige Richtung weisen: Davon findet sich jedoch keine Erwähnung weder in der IW-Studie noch im FAZ-Artikel. Für eine große Geschichte in der renommierten FAZ ist das schon enttäuschend. So stellen Osberg / Smeeding (2006) (pdf) in einer Studie, die sich ausgerechnet auf Daten des ISSP (allerdings auf die vorherige Ungleichheits-Umfrage von 1999) stützt, auf das sich auch Niehues bezieht, fest, dass Befragte in Deutschland wie in allen anderen untersuchten Ländern, das Verhältnis zwischen den Einkommen von Managern und Fachkräften deutlich unterschätzen. Und Aalberg (2003) zufolge wird etwa der Abstand der Einkommen von Arbeitern und Ärzten deutlich unterschätzt.

Dennoch bleibt die spannende Frage, warum im internationalen Vergleich Deutschland in seinem Verhältnis zwischen Wahrnehmung und tatsächlicher Verteilung der Schichten (also nicht der Einkommensabstände dieser Schichten) abweicht. Hier hat die IW-Studie einen Punkt. Doch bedürfte es einer näheren Untersuchung etwa der Frage, welche Rolle andere länderspezifische Faktoren möglicherweise spielen. Gemessen an der Vielzahl von Einschränkungen wäre es in jedem Fall angesagt das Ganze ausgewogener zu formulieren, statt kühne politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Doch das IW Köln hat keine Kosten und Mühe gescheut und gleich eine schicke interaktive Grafik erstellt, in der man sich der Botschaft vergewissern kann.

„Verzerrte Umverteilungspräferenzen“

Vor allem aber suggerieren Niehues und FAZ – aufbauend auf der einen empirischen Studie – eine Wirkungskette, die angesichts der wackeligen Basis doch recht wagemutig anmutet und die unausgesprochene Werturteile enthält. Niehues untersucht im weiteren Verlauf den statistischen Zusammenhang zwischen der subjektiv empfundenen Ungleichheit und den „Umverteilungspräferenzen“ in unterschiedlichen Ländern und findet einen positiven Zusammenhang: Je höher die wahrgenommene Ungleichheit der sieben Schichten, desto stärker der Wunsch nach Umverteilung. Daher auch ihre Warnung vor einem „Teufelskreis“.

Die Erzählung geht ungefähr so:

(1)  Die Wahrnehmung von Ungleichheit ist verzerrt
(2)  Umverteilungspräferenzen sind positiv korreliert mit der Wahrnehmung von Ungleichheit
(3)  Umverteilungspräferenzen sind verzerrt

Wir haben gesehen: (1) gilt wenn überhaupt eher eingschränkt. Es gibt viele Ungleichheitsdimensionen, in denen sich das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und tatsächlicher Ungleichheit ganz anders darstellt, und es bleibt offen, was Studienteilnehmer wirklich assoziieren. Aber nehmen wir ruhig an (1) würde gelten: Wer sagt uns, dass der Wunsch nach Umverteilung bei der gegebenen tatsächlichen Verteilung anders wäre, wenn (1) nicht zuträfe? Und noch weitergehend: Könnte denn nicht auch eine geringere tatsächliche Ungleichheit zu denselben Präferenzen führen?

Der Begriff „verzerrter Ungleichheitspräferenzen“ impliziert eine Vorstellung „wahrer“ Präferenzen. Das klingt eigentlich eher nach Vulgärmarximus. Der Begriff enthält ein unausgeprochenes Werturteil, das sich vermutlich aus der Logik des sogenannten „Medianwählertheorems“ speist, mit dem die Studie einsteigt. Demnach sind Wähler eigennützig und wollen mit ihren Wahlentscheidungen ihren eigenen Nutzen maximieren.

Das Medianwählertheorem besagt dann (nachdem eine Reihe unrealistischer Annahmen getroffen wurden, wie bspw. eindimensionale Wahloptionen, also dass die Bewertung verschiedener Politikfelder sich zwischen den Wählergruppen nicht widerspricht, oder dass Menschen nicht auch wichtig finden, wie es anderen um sie herum geht), dass das politische Programm des Wahlsiegers die Interessen der Person spiegeln, die genau in der Mitte der Verteilung positioniert ist.

Wenn Wähler aber wie die Studie zu zeigen glaubt ihren Nutzen falsch wahrnähmen, dann sei auch ihre politische Präferenz verzerrt. Es ist schon erstaunlich, dass aus einer wirtschaftspolitischen Ecke, in welcher der subjektive Nutzen des Individuums sonst das Maß aller Dinge ist, plötzlich ein Versuch kommt, das ‚objektiv Richtige‘ korrigierend festzustellen: „Die Deutschen fühlen sich gerne schlecht“.

Verzerrte Mediendebatte

Vielleicht haben „die Deutschen“ gute Gründe, Umverteilung zu wünschen, obwohl bestimmte Tonangeber permanent versuchen ihnen einzureden, sie hätten gar keinen Grund dazu. Ganz bezeichnend in dieser Hinsicht war auch der Leitartikel von Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo auf der Titelseite der Zeit, kurz vor der Bundestagswahl 2013:

Schließlich gibt es einen Makel, den die SPD ganz allein zu verantworten hat und der ihr mehr zusetzt, als es die meisten Genossen wahrhaben wollen: Es ist die Angst, die SPD wolle Teilen der Mittelschicht an den Geldbeutel. Und diese Befürchtung ist keinesfalls eine Erfindung des politischen Gegners. (…) Aber es gibt dabei ein Missverständnis: Eine Alleinverdienende mit Familie und einem Jahreseinkommen von 100 000 Euro hat sicherlich ein hohes Gehalt, weit über dem Durchschnitt aller Erwerbstätigen in Deutschland. Aber jeder, der in einer Großstadt wie München, Frankfurt oder Hamburg lebt oder sich mit den Lebenshaltungskosten dort auskennt, weiß auch: Reich ist sie deswegen noch lange nicht, große Sprünge sind da weder bei der Wohnung noch im Urlaub oder beim Hobby drin.
Giovanni di Lorenzo, Die Zeit, 29. August 2013, S.1.

100.000 Euro, damit liegt man gemütlich innerhalb der obersten fünf Prozent der Einkommensbezieher. Man fragt sich angesichts solcher Patzer, in welche Richtung wessen Fehleinschätzung der Verteilung in Deutschland wirklich geht. Ulrike Herrmann von der taz sagte sehr klug auf dem Kongress Umverteilen Macht Gerechtigkeit, worin ein zentrales Problem für eine Politik liege, die versuche gegen die unmittelbaren materiellen Interessen der einkommensstärksten 5-10% umzuverteilen, so wie es die rot-grünen Steuererhöhungspläne in Maßen vorsahen: (Noch) gut bezahlte Journalisten, wie etwa bei den großen überregionalen Zeitungen und im Fernsehen, zählten schon zu diesen Einkommensgruppen, hielten sich aber zugleich fälschlicherweise für die Mittelschicht.

Nachtrag (25.7.2014):

Die New York Times berichtete gestern über eine Studie von Forscher/innen der Uni Hannover, die auch in der IW-Studie zitiert wird – allerdings nur selektiv. Was nämlich unterschlagen wird, ist dass in allen untersuchten Ländern, auch in Deutschland, die Einkommensungleichheit unterschätzt wird, wenn man den wahrgenommenen Abstand zwischen Durchschnitts- und Medianeinkommen betrachtet.

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