Weekly Piketty 6: Über Wachstumsraten

Cover PikettyIn dieser Woche schauen wir Piketty zu bei seinen ‚mathematischen Fingerübungen‘ mit Wachstumsraten und ergründen, warum diese scheinbaren Banalitäten übertragen auf ein paar ausgesuchte ‚Eckpfeiler‘ eine hilfreiche Orientierung bieten können im Nachdenken über Vermögens- und Ungleichheitsentwicklungen über längere Zeitverläufe.

Piketty warnt seine Leser/innen zu Beginn seines Buchs, dass dessen erster Teil im Grunde nichts Neues biete und vielmehr als Einführung in grundlegende Konzepte gedacht sei, die im späteren Verlauf des Buchs wichtig würden. Er empfiehlt denjenigen, die mit diesen Fragen vertraut seien, die beiden Kapitel einfach zu überspringen.

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Gerade Kapitel 2, „Growth: Illusions and Realities“ ist jedoch eine lohnende Lektüre, wenn man ein Gefühl bekommen möchte für ein so banal erscheinendes Konzept wie die wirtschaftliche Wachstumsrate. Gerade Wachstumsskeptikern oder –kritikern wird dies zwar vermutlich nichts Neues sein. Dennoch macht die Geduld mit der Piketty innehält, um sehr banale Punkte zu erklären, das Kapitel in jedem Fall sehr lesenswert.

Bedeutung unterschiedlicher Wachstumsraten zeigt sich mit der Wahl des zeitlichen Rahmens

Eine erste Tatsache, die Piketty in Bezug auf Wachstumsraten deutlich macht, ist, dass schon sehr kleine Wachstumsraten auf die Dauer gewaltige Größenveränderungen mit sich bringen. Jede/r, der oder die sich mit Zinseszins und exponentiellem Wachstum einmal beschäftigt hat, wird das auch zumindest abstrakt wissen. Dennoch ist es erhellend, wie Piketty diese Dynamiken in intuitiv verständliche Größendimensionen übersetzt. Er bietet dadurch hilfreiche Eckpfeiler der Orientierung, aus denen man die abstrakten mathematischen Gesetze auf die Wirtschaftsgeschichte der vergangenen Jahrhundert anwenden kann.

Ein Eckpfeiler ist die Veränderung, die unterschiedliche Wachstumsraten auf einen Zeitraum von dreißig Jahren, also ca. eine Generation, gesehen bedeuten:

  • Eine Wachstumsrate von jährlich einem Prozent möge, so Piketty, auf ein Jahr gesehen als fast nichts erscheinen. Auf dreißig Jahre gesehen ist dies jedoch immerhin eine Vergrößerung um etwa ein Drittel.
  • Eine Wachstumsrate von 2-2,5 Prozent bedeutet eine Verdopplung des Nationaleinkommens innerhalb einer Generation.

Ein weiterer Eckpfeiler sind die groben Entwicklungsstadien der langfristigen Wachstumsraten.

  • Hier identifiziert Piketty die vergangenen 300 Jahre als grob die Zeit, in der die wirtschaftlichen Wachstumsraten explodierten.
  • Weltweit gab es auf diese 300 Jahre gerechnet ca. 1,6 Prozent jährlichen Wachstums. Das klingt nach wenig? Es bedeutet jedoch eine Vergrößerung um mehr als den Faktor 200 in diesem Zeitraum.
  • Vor allem muss man dies mit einer geschätzten Wachstumsrate in einer Größenordnung von jährlich 0,1 Prozent in den 1700 Jahren davor kontrastieren. Dagegen sind jährlich 1,6 Prozent tatsächlich eine Revolution.
  • Noch beachtlicher wird, wenn man die 300 vergangenen Jahre unterteilt in drei Phasen:
      • In den ersten 120 Jahren von 1700 bis 1820 zitiert Piketty Schätzungen von jährlich 0,5 Prozent
      • Von 1820 bis 1913 kommt er dagegen schon auf jährlich 1,5 Prozent
      • Von 1913 bis 2012 sind es dann gigantische 3 Prozent jährlich. Drei Prozent Wachstum pro Jahr bedeutet weit mehr als eine Verdoppelung innerhalb einer Generation

Aus dieser Betrachtung wird deutlich, in (oder nach?) welch außergewöhnlicher historischer Phase wir gerade leben.

Dekomposition des Wachstums: Produktion pro Person und Bevölkerungsentwicklung

Eine zweite Banalität, die Piketty aufgreift, bietet ebenfalls einen wichtigen analytischen Anker, um wirtschaftliches Wachstum zu verstehen. Wirtschaftswachstum kann immer in zwei Bestandteile zerlegt werden: das Wachstum der Produktion pro Kopf und das Wachstum der Köpfe, also der Bevölkerung. Auf die 300 letzten Jahre gerechnet teilen sich die 1,6% jährlichen Wachstums jeweils ca. hälftig auf in 0,8% jährliches Produktivitätswachstum und 0,8% jährliches Bevölkerungswachstum.

Wie können wir über das Jahr 0 etwas wissen? Wachstumslogik rückwärts gerichtet

Eine dritte interessante Erkenntnis, die das Kapitel bietet, ist Pikettys Erklärung warum wir – trotz der zunehmend schlechten Datenlage je weiter wir in die Vergangenheit zurückblicken – dennoch plausible Aussagen über das Wachstum in diesen lange vergangenen Zeiten machen können.

Es ist schlicht die mathematische Logik von Wachstumsdynamiken. Warum können wir schätzen, dass in den Jahren 0-1700 die jährliche Wachstumsrate in der Größenordnung von 0,1 Prozent lag? Weil bei deutlich höheren Wachstumsraten in der Vergangenheit die gewachsene Menge heute bereits um ein Vielfaches größer sein müsste oder die Bevölkerung im Jahre 0 unserer Zeitrechnung kleiner hätte sein müssen als sämtliche historische und archäologische Befunde plausibel erscheinen lassen.

Wachstum und Verteilung: eine erste Annäherung

Schließlich nähert sich Piketty mit der Betrachtung von Wachstumsraten auch seinem Ziel eines analytischeren Nachdenkens über Verteilungsentwicklungen. An dieser Stelle im Buch tut er dies noch auf einem sehr allgemeinen Niveau. Er versucht im Grunde nur zu verdeutlichen, dass unterschiedliche Wachstumsraten die relative Bedeutung bereits akkumulierten Vermögens maßgeblich beeinflussen:

Growth can create new forms of inequality: for example fortunes can be amassed very quickly in new sectors of economic activity. At the same time, however, growth makes inequalities of wealth inherited from the past less apparent, so that inherited wealth becomes less decisive.
Thomas Piketty, Capital in the 21st Century (2014)

Und andersherum:

Capital dominated societies in the past, with hierarchies largely dominated by inherited wealth (a category that includes both traditional rural societies and the countries of nineteenth-century Europe) can arise and subsist only in low-growth regimes.
Thomas Piketty, Capital in the 21st Century (2014), p. 84

Wenn man die Zerlegung von Wirtschaftswachstum in seine Komponenten Produktivität und Demographie zusätzlich in den Blick nimmt, kann man auch diese jeweiligen Wachstumsraten in Bezug setzen zu deren Auswirkungen auf die relative Bedeutung geerbten Vermögens:

Other things being equal, strong demographic growth tends to play an equalizing role because it decreases the importance of inherited wealth: every generation must in some sense construct itself.
Thomas Piketty, Capital in the 21st Century (2014), p. 83

Schließlich diskutiert Piketty in dem Kapitel einen Ausblick auf zukünftige Wachstumsraten. Er begründet dabei warum die zukünftige Entwicklung des Wachstums beziehungsweise deren zwei Bestandteile Demographie und Entwicklung der Produktion pro Kopf zwar kaum prognostizierbar seien – dennoch eine grobe Größenordnung unterhalb der uns am vertrautesten jährlichen 2-3 Prozent der vergangenen Jahrzehnte als realistisch erschiene.

Insgesamt zeigt Piketty in diesem Teil seines Buchs, wie man sich bereits mit solch grundsätzlichen Überlegungen als Ökonom die Mathematik zu Nutze machen kann, um die Realität analytisch und logisch stringent zu erfassen, ohne dabei zugleich den Fokus auf wesentliche Fragen zu verlieren – eine Gefahr, die er in der Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaft an anderer Stelle benennt.


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