Trotz jüngerer Anzeichen von Instabilität wird die ökonomische Entwicklung in der Türkei der letzten Jahre gerne als Erfolgmodell eines “inklusiven Wachstums” gefeiert. Die Türkei ist eines der wenigen Länder in der OECD, in denen die Einkommensungleichheit in einen leichten Rückgang zu verzeichnen scheint. Ein zweiter Blick jedoch relativiert diese Erfolgsgeschichte, wie Fabian Steininger in seinem Gastbeitrag aufzeigt.
Die Wahlen Anfang Juni in der Türkei brachten einige unerwartete Ergebnisse. Zum ersten Mal seit der Einführung der 10%-Hürde durch die Militärdiktatur im Jahre 1982 wurde eine der kurdischen Bewegung nahestehende Partei, die HDP (Demokratische Partei der Völker) als Fraktion ins Parlament gewählt. Da zudem noch zwei weitere Parteien den Einzug ins Parlament schafften, verpasste die Regierungspartei AKP (Partei der Gerechtigkeit und des Fortschritts) deutlich ihr Ziel einer Zwei-Drittel-Mehrheit an Abgeordneten, welche für die angepeilte Verfassungsänderung hin zu einer Präsidialdemokratie nötig gewesen wäre. Nun muss die Partei zum ersten Mal seit ihrer Regierungsübernahme im Jahre 2002 eine Koalitionsregierung bilden, deren Sondierungsgespräche gegenwärtig noch andauern.
Obwohl die Wechselkurse der Lira gegenüber Dollar und Euro in den ersten Monaten des Jahres erheblich nachgegeben hatten, die Preise für Lebensmittel gegenüber dem Vorjahr um 21% gestiegen waren,[1] und das erwartete Wirtschaftswachstum für 2014 mit 2,9% deutlich geringer als erwartet ausgefallen war, spielten ökonomische Angelegenheiten nur eine kleine Rolle im Wahlkampf. Stattdessen bestimmten Themen wie die Frage nach der Stellung der kurdischen Minderheit, die öffentliche Position von Frauen, die Rolle des Islam innerhalb des Erziehungswesens, die öffentlich bekannt gewordene Korruption innerhalb der AKP, sowie der zunehmend autoritäre Politikstil von Staatspräsident Tayyip Erdoğan die Debatten.
Die Erfolgsgeschichte der Türkei als moralische Ökonomie
Tatsächlich hatte in den letzten Jahren die wirtschaftliche Entwicklung des Landes eine wichtige Rolle bei den Wahlerfolgen der AKP sowie der Legitimität der Regierung gespielt. Seit 2002 hatte sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf mehr als verdoppelt, die absolute Armutsquote mehr als halbiert, waren die unteren 40% der Einkommen überproportional gestiegen, und der Gini-Koeffezient, welcher die Einkommensungleichheit misst, entgegen dem internationalen Trend von 0,43 auf 0,41 gesunken. Die Entwicklung der Türkei gilt als Erfolgsgeschichte eines „Inklusiven Wachstums“, von dem auch breite Bevölkerungsschichten profitieren können, und wird von internationalen Institutionen wie der Weltbank als Entwicklungsmodell für Transitionsökonomien vermarktet.
Das mit diesem Vorbildcharakter einhergehende Selbstvertrauen der Regierung spiegelte sich auch deutlich im diesjährigen Wahlkampfslogan wider: „Die anderen reden – die AKP macht!“. Denn nicht nur ist der Gerechtigkeitsbegriff aus dem Namen der Partei im historischen Kontext der Türkei immer schon stark sozial aufgeladen gewesen. Ein weiterer Punkt in der Selbstlegitimation der AKP war auch die Schaffung einer „Moralischen Ökonomie“, in welcher die Wirtschaft unter religiös-ethischen Gesichtspunkten sozial gestaltet werden sollte.
Dies diente der Abgrenzung von den angeblich „korrupten säkularen Oberschichten“ und großen Unternehmen aus Istanbul oder dem Westen der Türkei. Von der AKP wurden dagegen im Verbund mit religiösen Bewegungen wie etwa Fethullah Gülens „Hizmet“ vertrauensbasierte Netzwerke geschaffen, die konservative Werte und Sozialprogramme mit erfolgreichen Handels- und Industrieunternehmungen vor allem in den Mittelstädten Anatoliens verbanden und so eine neue kapitalistische „muslimische Mittelschicht“ schufen.
Inklusives Wachstum oder neoliberale Agenda?
Dieser soziale und moralische Anspruch der Regierung wird häufig als Verbrämung einer im Grunde klassischen neoliberalen Agenda interpretiert – und in der Tat fallen in die Zeit seit 2002 auch erhebliche Privatisierungen großer Staatsunternehmen. Dennoch ist die Türkei ein interessanter und spezieller Fall, da die gewöhnliche Zunahme der sozialen Ungleichheit in Zeiten hohen wirtschaftlichen Wachstums nach Definitionen der internationalen Organisationen eben nicht eingetreten ist.
Es gibt nun meiner Meinung nach zwei Probleme mit dieser Interpretation: Zum einen ist die angebliche Abnahme des Gini eher als eine Stabilisierung auf hohem Niveau seit den 1980er Jahren zu kennzeichnen – dem gegenwärtig dritthöchsten der OECD-Länder und deutlich höher als etwa in den USA. Zum anderen besitzen ausgewählte Daten für die Einkommensungleichheit teils erhebliche methodische Schwierigkeiten und geben die tatsächliche soziale Situation in der Türkei nur ungenau wieder.
Ungleichheit der Einkommen und des Vermögens
Denn zum einen ist bei den Einkommen das Verhältnis des reichsten zum ärmsten Dezil seit Mitte der 2000er bis 2014 von 14.5 auf 15.1 gestiegen (die reichsten 10% verdienen also 15-mal so viel wie die ärmsten 10%), was im OECD-Vergleich eine überdurchschnittliche Steigerung ist. Auch erhielten die reichsten 20% (2014) mehr als die Hälfte des gesamten Einkommens. Und ferner stieg die relative Armutsrate, also die Anzahl derjenigen, die mit weniger als 50% des Medianeinkommens leben müssen, von 17,5% (2004) auf 20% (2014).
Zum anderen ist die Verteilung der Vermögen nach neueren Schätzungen in den letzten Jahren erheblich gestiegen: nach einer Studie der Credit Suisse stieg der Anteil der obersten 1% am Gesamtvermögen von 39,4% (2002) auf 54,3% (2014), wohingegen der gegenwärtige Anteil des obersten Dezils 77.7% beträgt, was die Türkei zum ungleichsten Land der Welt nach Russland machen würde.
Irreguläre Arbeit und kreditfinanzierter Konsum
Auch andere Daten deuten darauf hin, dass die wirtschaftliche Entwicklung nicht allen Menschen zu Gute gekommen ist. Die niedrige Beschäftigungsquote von 49,7% der erwachsenen Bevölkerung, die besonders bei Frauen sehr gering ist, ist ein Indikator, dass viele Menschen einen erheblichen Teil des Lebensunterhalts aus irregulärer Beschäftigung bestreiten müssen. Sie sind somit kaum in den statistischen Daten zu Einkommen vertreten, und können nur indirekt erfasst werden. Die gleichbleibend hohe Inflationsrate von 9% trifft diese Menschen besonders. So blieben die durchschnittlichen Konsumausgaben von Haushalten für Essen seit 2003 in etwa konstant bei 25%, oder fast dem doppelten der BRD. Zudem ist die Anzahl der Haushalte, die nach eigenen Angaben nicht genug Lebensmittel kaufen können, seit 2008 von 26,6 auf 32.7% gestiegen.
Für diese Menschen wird in den letzten Jahren kreditfinanzierter Konsum immer wichtiger. Zwar liegen über die Privatverschuldung keine genauen Zahlen vor, sie scheint jedoch enorm zugenommen haben. So stieg laut einer Studie über Istanbuler (regulär und irregulär beschäftigte) Arbeiter_innen die Rate von durch Konsumentenkredite finanzierter Haushaltsausgaben von 2,7% (2002) auf 22,6% (2010), und fast jeder Dritte besaß mehr als zwei Kreditkarten. Zudem erhöhte sich in derselben Zeit der Anteil von Haushaltskrediten an der gesamten Kreditvergabe Istanbuler Banken von 13% auf 33%. Von den Haushalten, die solche Kredite in Anspruch nahmen, verdienten 42% weniger als 1000 Lira im Monat (etwa 350 Euro), und weitere 28% zwischen 1000 und 2000 Lira. Die Ungleichheit könnte somit auch zu einem Problem für die makroökonomische Stabilität werden.
Geringe steuerliche Umverteilung
Wie diese Daten zeigen, ist die Situation sozialer Ungleichheit in der Türkei deutlich vielschichtiger, als es die Erfolgserzählung des „inklusiven Wachstums“ darstellt. Ein Grund dafür ist sicherlich auch die geringe Umverteilung durch Steuern seitens des Staates. So ist einerseits das gesamte Steueraufkommen im internationalen Vergleich gering und lag im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt 2013 bei lediglich 29,3%, und damit auf dem vorletzten Platz innerhalb der OECD.
Andererseits sind innerhalb des Steuersystems indirekte Steuern, die alle Menschen gleichermaßen treffen, überproportional vertreten und machen 69% des gesamten Aufkommens aus. Hierbei sind vor allem Steuern auf Waren und Dienstleistungen wichtig, wie etwa die 2002 eingeführte ÖTV (Spezielle Verkaufssteuer). Gleichzeitig machen Steuern auf Einkommen nur 14% des Gesamtaufkommens aus, und Unternehmenssteuern lediglich 4%. Eine Steuer auf Vermögen wird nicht erhoben.
[1] Die Daten im Blog beziehen sich auf das letztmögliche Jahr und stammen, sofern nicht anders gekennzeichnet, von der Türkischen Statistischen Gesellschaft bzw. der OECD, die sich auf die TÜIK stützt, jedoch deutlich weniger und ältere Daten zur Verfügung stellt.