In der gestrigen Print-Ausgabe der FAZ (und jetzt auch online beim wirtschaftsfinanzierten schweizerischen Thinktank Avenir Suisse) findet sich eine Kritik an Thomas Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“ von Ökonom und FDP-Politiker Karl-Heinz Paqué. Es ist eine faire und relativ sachliche Kritik – und sie hebt sich damit wohltuend aus der deutschen Piketty-Debatte hervor.
Anders als manch anderer wirtschaftsliberaler Kritiker aus Deutschland erkennt Paqué Pikettys Forschungsleistung zunächst einmal an:
Tatsächlich lässt sich überhaupt nicht bestreiten, dass Thomas Pikettys Werk fast 15 Jahre Verteilungsforschung zusammenfasst, die bereichernd und zum Teil bahnbrechend ist. Dies allein verlangt großen Respekt.
Karl-Heinz Paqué, FAZ 12.9.2014, S. 18
Dennoch widerspricht Paqué den Befunden von Piketty vehement: Aus seiner Sicht müsse eine Zunahme der Vermögensungleichheit nicht durch politisches Gegensteuern gelöst werden. Ein sich aus Marktkräften ergebender „Trendbruch“ könne die von Piketty analysierten Ungleichheits-Triebkräfte bereits entschärfen.
Paqués Kritik ist methodisch, empirisch und ökonomisch:
- Methodisch kritisiert er mit Karl Popper, Piketty gehe – ähnlich wie Marx – „historizistisch“ vor: er versuche, eherne Gesetze des Kapitalismus zu identifizieren. Das sei unwissenschaftlich. Man könne nach Poppers Logik der Forschung nur Hypothesen falsifizieren, mehr aber nicht.
- Auf empirischer Ebene stellt er fest, dass Pikettys Daten zur gegenwärtigen Vermögenskonzentration gar nicht so dramatisch seien. Wir seien noch weit entfernt von Verhältnissen ähnlich denen am Vorabend des ersten Weltkriegs.
- In Kombination mit der methodischen Kritik müsse also die Zukunft als noch offen betrachtet werden – auch ohne politisches Gegensteuern könnten Ungleichheitskräfte möglicherweise entschärft werden.
- Damit schließt sein ökonomisches Argument an: Für Paqué gibt es „starke Indizien“, dass ein globaler „Trendbruch“ der Knappheitsverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital anstehe. Wir steuerten auf ein „Zeitalter global niedriger realer Renditen“ zu. Damit könne sich das von Piketty als historische Konstante beschriebene Verhältnis zwischen Kapitalrendite und Wachstumsrate – und entsprechend die Ungleichheitskräfte – entschärfen.
- Als Grund nennt Paqué die sogenannte „savings glut“, eine globale Kapitalschwemme, die die Rendite von Kapital dauerhaft nach unten drücken könnte. Tieferliegende Kraft dieses Phänomens sei der demographische Wandel, der zu einem Anstieg der Sparbereitschaft führe. Zudem könne die „globale Industrialisierung und Integration der Kapitalmärkte für sehr niedrige Realzinsen sorgen“.
- Zugleich vollzögen sich auf dem Arbeitsmarkt Entwicklungen, die ebenfalls Druck aus dem Ungleichheitstrend nähmen: Eine Verknappung des Faktors Arbeit. Dies hätte schon in der Zeit zwischen 1914 und den siebziger Jahren eine entscheidende Rolle gespielt, die Lohnquote, also den Anteil der Löhne an der gesamten Wertschöpfung, zu stärken. Jetzt spreche viel dafür, „dass die funktionale Aufteilung der Einkommen auf Kapital und Arbeit sich im Trend endlich wieder zugunsten der Arbeit verschiebt“.
- Piketty überschätze schließlich die Macht der Politik ähnlich wie Karl Marx – entgegen Paqués Optimismus ob der Selbststeuerungsfähigkeit der Marktwirtschaft:
„[Piketty] übersieht dabei, dass die Politik letztlich auf die Knappheiten Rücksicht nehmen muss, die sich in einer Marktwirtschaft nun einmal ergeben, auch zwischen Kapital und Arbeit. Das ist in der Vergangenheit im Wesentlichen geschehen – sieht man einmal von den Großkatastrophen der Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise im 20. Jahrhundert ab. Dies ist ein Glück, denn sonst hätte es gerade in den letzten Jahrzehnten weder den erfolgreichen Strukturwandel nach den Ölkrisen noch die Re-Integration Ostdeutschlands und Osteuropas in die Weltwirtschaft gegeben.
Karl-Heinz Paqué, FAZ 12.9.2014, S. 18
Zielt Paqués Kritik ins Leere?
Es wird deutlich, dass die Popper’sche Kritik an Pikettys vermeintlich ‚ehernen Gesetzen‘ vielmehr droht nach hinten loszugehen, stützt sich doch Paqué selbst auf Glaubenssätze der neoklassischen Ökonomik, nach der Marktwirtschaften zum Gleichgewicht tendieren und Preise der Produktionsfaktoren Knappheiten gut abbilden. Das mag so kommen – steht aber, wie uns Popper doch lehrt, keinesfalls fest.
Denn die „Indizien“, die Paqué für seine These anführt, dass die ungleichheitssenkende Trendwende nun bevorstehe, lassen sich in ihr Gegenteil verkehren. So lässt sich die savings glut auch als Ergebnis der zunehmenden Ungleichheit interpretieren: Reiche Haushalte neigen dazu, mehr zu sparen als durchschnittliche Haushalte. Wenn diese Haushalte ihren Anteil am gesamten Einkommen vergrößern, erhöht sich auch die gesamtwirtschaftliche Sparquote. Bis zur Finanzkrise wurde dies in den USA zum Teil nur dadurch verdeckt, dass sich die ärmeren Schichten zu hoch verschuldeten (ebenfalls ein Phänomen das sich durch Ungleichheit damit verbundene Statusängste erklären lässt). Mehr zur in der Piketty-Debatte regelmäßig unterschätzten Rolle unterschiedlicher Sparquoten findet sich im Beitrag von Till van Treeck in diesem Blog und bei diesem Forschungsprojekt.
Ob zudem der Faktor Arbeit angesichts der schwächelnden globalen Wirtschaft in absehbarer Zeit in eine bessere Verteilungsposition kommen kann bleibt ungewiss. Zumal dabei offen bliebe, ob sich eine durch Knappheit vermeintlich einstellende Verbesserung in der funktionalen Verteilung (also zwischen Arbeit und Kapital) tatsächlich auf die personelle Verteilung (also zwischen den Haushalten) übertragen würde: Denn erstere könnte auch durch einen weiteren Anstieg der Spitzeneinkommen zustande kommen ohne die Ungleichheit zwischen Haushalten damit zu reduzieren.
Verwirrung um Pikettys „eherne Gesetze“
Insgesamt scheint es unter den Kritikern von Piketty eine allgemeine Verwirrung der Begriffe zu geben (ein weiteres Beispiel, siehe hier). Piketty beschreibt in seinem Buch zwei „fundamental laws of capitalism“. Diese „Gesetze“ sind jedoch nicht mehr als eine Identitätsgleichung und ein arithmetisches Prinzip, die an sich noch kein erklärendes Modell sind.
Die Ungleichung r>g, auf die sich Paqué hier zentral bezieht, nennt Piketty gar nicht Gesetz, sondern „fundamental force of divergence“. Vielleicht führt derselbe Begriff „fundamental“ dazu, dass die force of divergence, die Piketty eher als empirische Tendenz ausmacht, regelmäßig als Gesetz missinterpretiert wird.
Die zentrale offene Frage bleibt also, welche Annahmen über die Entwicklung der verschiedenen Parameter am Ende zutreffen werden: Wie entwickeln sich u.a. Kapitalrendite, Lohnquote, personelle Einkommensverteilung und das jeweilige Sparverhalten, Demographie, Wachstum und Technologien? Piketty ist nicht nur zu verdanken, die Grundlagen für diese wichtige Diskussion in einem Werk strukturiert zu haben. Auch seine Gründe, warum er die Ungleichheitstriebkräfte für relativ stark gegenüber gegenläufigen Tendenzen hält, sind nicht leicht von der Hand zu weisen.
Nachtrag (23.9.2014): Mittlerweile ist Paqués Artikel auch Online bei der FAZ nachzulesen.