Weekly Piketty 5: Pikettys Beta – Vermögen und Einkommen im Verhältnis

Cover PikettyPikettys Ungleichheitsanalyse lässt sich auf zwei simple mathematische Formeln herunterbrechen, deren zentraler Bestandteil das sogenannte Kapital-Einkommens-Verhältnis Beta, darstellt. Der Beitrag erläutert was unter Beta zu verstehen ist, und warum Piketty damit einen formalen Analyserahmen der Ungleichheit bietet, nicht jedoch eine Theorie des Kapitalismus, des Wachstums oder der Ungleichheit.

In den Weekly Pikettys 1 und 2 wurde bereits gezeigt, dass Piketty zentrale Ungleichheitstriebkräfte herausarbeitet, die er mit der historischen Tendenz “r>g” auf einen griffigen Slogan herunterzubrechen sucht. Wie in Folge 2 verdeutlicht ist “r>g” jedoch überhaupt nicht als ‚ehernes Gesetz des Kapitalismus‘ zu verstehen (obwohl es regelmäßig als solches missverstanden wird) – und es ist auch nicht der Kern der formalen Ungleichheitsanalyse von Piketty. Diese fasst er tatsächlich in zwei als „Gesetz“ bezeichnete mathematische Formeln – seine sogenannten „fundamental laws of capitalism“. In dieser Woche geht es um einen zentralen Bestandteil dieser Formeln, das Kapital-Einkommens-Verhältnis, von Piketty auch kurz als Beta (der griechische Buchstabe: β) bezeichnet.

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Piketty wurde gerade in der deutschen Debatte oft dafür kritisiert, eherne Gesetze des Kapitalismus zu postulieren, wobei diese dann fälschlicherweise der Tendenz r>g zugerechnet wurden. Dabei kann das, was Piketty tatsächlich als „Gesetz“ bezeichnet, kaum strittig sein. Denn seine beiden „fundamentalen Gesetze des Kapitalismus“ sind nichts weiter, als simple mathematische Wahrheiten, die mit ihren Definitionen stehen und fallen. Sie sind insofern auch theoriefrei und erklären noch nichts. Dennoch bieten sie, wie Piketty zu zeigen sucht, einen hilfreichen logischen Analyserahmen zur Entwicklung von Ungleichheit.

Pikettys „erstes fundamentales Gesetz des Kapitalismus“

In Pikettys sogenanntem „ersten fundamentalen Gesetz des Kapitalismus“ wird dargestellt, dass der Anteil der Kapitaleinkommen an den gesamten Einkommen eines Landes errechnet werden kann aus dem Produkt aus Kapitalrendite und dem Vermögensbestand einer Volkswirtschaft, letzterer ausgedrückt in Prozent des jährlichen Gesamteinkommens.

OK… Nochmal schön langsam. Die Formel, die den vorherigen Absatz zusammenfasst, lautet: α = r * β

  • Alpha (α) ist der Anteil der Kapitaleinkommen am gesamten Einkommen, auch als Gewinnquote bezeichnet.
  • Das kleine r bezeichnet die Kapitalrendite, die wir schon aus r>g kennen. Es bezeichnet den Prozentsatz an Kapitaleinkünften pro Vermögen, der Vermögensbesitzern – durchschnittlich in der Volkswirtschaft – schlicht durch den Besitz dieses Vermögens jährlich zuteil wird. Es sollte daher auch nicht mit dem Zinssatz verwechselt werden, der typischerweise sehr viel spezifischer definiert ist. Individuell variiert r natürlich, wobei tendenziell r größer ist, je höher die Vermögen sind – eine eigene ungleichheitsverstärkende Komponente.
  • Beta (β) ist das sogenannte Kapital-Einkommen-Verhältnis, also der Bestand an Vermögen (ein großer Haufen) in Relation zum jährlichen Strom neuer Einkommen (das, was im Jahr konsumiert wird und das, was nicht konsumiert wird und zu dem Haufen dazukommt).

Die Formel drückt also die die Gewinnquote (α) als Kapitalrendite (r) multipliziert mit dem gesamten Vermögensbestand als Anteil am jährlichem Gesamteinkommen (β) aus. Es ist also nicht mehr als eine Definition.

Warum ist dieses „Gesetz“ nützlich, wenn es nichts erklärt?

Piketty gibt der Gleichung deshalb einen solch prominenten Platz und Namen, weil in dieser einen Gleichung drei wichtige Größen einer Verteilungsanalyse vorkommen: die Gewinnquote, die Kapitalrendite und eben Beta, das Kapital-Einkommen-Verhältnis. Im Zusammenhang mit dem „zweiten fundamentalen Gesetz des Kapitalismus“ und einigen empirischen Beobachtungen bietet es einen formalen Analyserahmen der Ungleichheitsentwicklung, vor der Piketty in seinem Buch warnt.

Gerade Kritiker von Links sehen hier eine Schwachstelle. Und sie haben ja Recht: Piketty erklärt mit seinen „Gesetzen“ weder Kapitalismus, noch Wachstum, noch die Quelle von Ungleichheit. Es ist zudem auch kaum überraschend, dass eine solche Kritik von denen kommt, für die Verteilungsfragen schon lange eine zentrale Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund ist die Ungeduld mit Piketty verständlich, darüber dass er in seinem dicken Wälzer nicht über tautologische „Gesetze“ hinauskommt.

Aber vielleicht sollte man Piketty genau dies auch als Stärke anrechnen. Er schafft es, Ungleichheitsdynamiken zunächst einmal in einem weitestgehend theoriefreien Rahmen zu formalisieren (auch wenn er dabei das Bestehen einer Marktwirtschaft und privaten Eigentums als selbstverständlich voraussetzt). Damit ist jedoch überhaupt nicht ausgeschlossen und es bleibt wichtiger Folgeschritt, auch jenseits der empirisch fundierten Analyse mathematisch-logischer Zusammenhänge auch nach dem „Warum“ und „Wie genau“ zu fragen.

Nur wie in Pikettys dickem Wälzer offensichtlich wird, ist allein der erste Schritt ein umfangreiches und erhellendes Unterfangen. Im Übrigen bedeutet die Selbstbeschränkung Pikettys wie vorletzte Woche diskutiert nicht, dass er gleichzeitig vorgäbe ein wertfreier Forscher zu sein. Aber er bietet eine Analyse, die von einem breiteren Publikum weitergedacht werden kann, als nur von den üblichen Verdächtigen, für die Ungleichheit ohnehin schon ein großes Problem darstellt.

Beta als Maß für die Bedeutung von Kapital in einer Volkswirtschaft

Die Größe, Beta – also das Kapital-Einkommen-Verhältnis –, ist eine besonders interessante Größe, an der auch das Spannungsverhältnis zwischen Tautologie und Theorie noch einmal deutlich wird. Was drückt Beta genau aus? Es ist der Bestand an Vermögen geteilt durch den Strom des jährlichen Nationaleinkommens. Für „geteilt durch“ kann man auch sagen: ausgedrückt in Jahren des Nationaleinkommens.

Zur Illustration: Wenn Beta 700% ist, also der Bestand an Vermögen sieben Mal so groß ist wie das Nationaleinkommen eines Jahres, dann kann man auch sagen: der Bestand an Vermögen entspricht sieben Jahren Nationaleinkommen (eine jährliche Veränderung des Nationaleinkommens außen vor gelassen). Mit Beta drückt man also den Vermögensbestand aus in ‚Zeit laufender Wertschöpfung‘. Sieben Jahre alles zusammengezählt, was eine Volkswirtschaft produziert, ergibt ein Beta von 7 oder 700%.

Dabei sei beachtet: Ein fester Vermögensbestand wird natürlich umso größer, wenn man ihn in Beta darstellt, je geringer die jährliche Wertschöpfung ist. Ein gleiches Vermögen hat also in einem Land mit geringem Nationaleinkommen ein größeres Beta als in einem Land mit hohem Nationaleinkommen. Genau damit erklärt sich auch, warum Beta eine sinnvolle Größe ist: Vermögen an sich sagt ja noch nicht viel aus. Im Verhältnis zu dem was jährlich produziert wird bekommt es einen einleuchtenden Maßstab. Übrigens einen Maßstab, der zunächst noch nichts über Ungleichheit aussagt. Das Vermögen könnte, egal wie groß Beta ist, auf alle gleich verteilt sein.

Piketty schreibt daher auch:

The capital/income ratio for the country as a whole tells us nothing about inequalities within the country. But β does measure the overall importance of capital in a society, so analyzing this ratio is a necessary first step in the study of inequality.
Thomas Piketty, Capital in the 21st Century (2014), p. 51

Misst Beta zwar die Bedeutung von Kapital in einer Volkswirtschaft – so sagt es zugleich jedoch nichts darüber aus, welche Funktion Kapital in einer Volkswirtschaft einnimmt, zumal – wie letzte Woche gesehen – der Kapitalbegriff bei Piketty sehr weit gefasst ist. Auch hier wird also wieder das Spannungsverhältnis zwischen Tautologie und Theorie deutlich.

Gesetzt jedoch eine bestehende Ungleichheit der Vermögen, und gesetzt r ist größer als g, und gesetzt die Sparquote insbesondere der Reichen ist ausreichend hoch (verschiedene Simulationen finden sich hier) – was alles ziemlich realistische empirische Annahmen sind: dann ergibt sich auch ohne weitere theoretische Annahmen eine rein mechanische Ungleichheitsentwicklung. Und es wird angesichts des hohen Beta immer schwieriger, durch Arbeitseinkommen relevante Vermögen zu akkumulieren, weil bestehende Vermögen aus sich heraus immer größere arbeitslose Renten produzieren. Insofern zeigt ein hohes Beta in Kombination mit den genannten übrigen Faktoren an, wie die Ungleichheitsweichen gestellt sind.

Beta und r – Vermögen ausgedrückt als Einkommensstrom

Ähnlich wie Beta Vermögen in jährlichen gesamtwirtschaftlichen Einkommen (also Arbeits- und Kapitaleinkommen) ausdrückt, bezeichnet r wie oben erwähnt den Prozentsatz an jährlichen Kapitaleinkünften pro Vermögen.

Piketty beobachtet interessanterweise, dass in den Romanen des 18./19. Jahrhunderts von Jane Austen und Honoré de Balzac – zu Zeiten eines hohen Betas –, die Art Vermögen in ‚Jahren Kapitaleinkommen‘ auszudrücken sehr alltäglich gewesen zu sein scheint:

In the novels of Jane Austen and Honoré de Balzac, the fact that land (like government bonds) yields roughly 5 percent of the amount of capital invested (or, equivalently, that the value of capital corresponds to roughly twenty years of annual rent) is so taken for granted that it often goes unmentioned. (…) For nineteenth-century novelists and their readers, the relation between capital and annual rent was self-evident and the two measuring scales were used interchangeably, as if rent and capital were synonymous, or perfect equivalents in two different languages.
Thomas Piketty, Capital in the 21st Century (2014), pp. 53-54

Es ist aus dieser Klarheit, darüber dass Vermögensbestände und Einkommensströme, Kapitaleinkommen und Gesamteinkommen intrinsisch miteinander verbunden sind, und darüber wie essentiell deren jeweilige Verhältnisse für Verteilungsfragen sind, aus der Pikettys Analyse der Ungleichheitsdynamiken ihre Schärfe zieht. Es ist trivial und tautologisch, und zugleich voller Sprengkraft.


Bisherige Weekly Pikettys auf…
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